Wahlpannen in Berlin waren „absehbar und vermeidbar“

Aktualisiert: 06.07.2022, 14:19 | Dominik Bath | Lesedauer: 7 Minuten

Berlin. Falsche oder fehlende Stimmzettel, die zeitweise Schließung von Wahllokalen und teils stundenlange Wartezeiten: Die Pannen am Superwahltag am 26. September des vergangenen Jahres sorgten dafür, dass bundesweit über Berlin gespottet wurde. Die Mängel aber wären vermeidbar gewesen, hieß es am Mittwoch von den Mitgliedern der Expertenkommission, die in den vergangenen Monaten die Pannen am besagten Wahlsonntag untersuchten.

Vor allem strukturelle Versäumnisse bescheinigten die Experten den Wahlorganisatoren in der deutschen Hauptstadt: Fehler sahen die Mitglieder der Kommission nicht nur bei der kurz nach dem Debakel zurückgetretenen Landeswahlleiterin Petra Michaelis selbst, sondern auch bei den Bezirken und der Innenverwaltung unter dem damaligen Innensenator Andreas Geisel (SPD), der inzwischen Senator für Stadtentwicklung ist. „Auch die Innenverwaltung hat eine Verantwortung“, sagte der Staatsrechtler Christian Waldhoff, der an der Humboldt-Universität Berlin lehrt. Rechtsaufsicht bedeute eben nicht, nur zuzuschauen. „Wenn es Probleme gibt, muss auch eingegriffen werden“, so Waldhoff.

Politikwissenschaftler: Lösung des Problems auf dem Weg in die Bezirke „versickert“

Vor allem aber die Landeswahlleitung kommt in dem Bericht der Kommission nicht gut weg: zu schwach, kein Durchgriffsrecht gegenüber den Bezirken, urteilten die Experten. Politikwissenschaftler Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung machte das anhand der Probleme mit fehlenden oder falschen Stimmzetteln deutlich: Diese waren an dem Wahltag selbst teils nicht ausreichend in den Wahllokale vorhanden.about:blank

Vor der Wahl hatte es aber auch Fehler in der Druckerei gegeben. Stimmzettel waren dort unter anderem falsch beschriftet worden. Jemand hätte da schlaflose Nächte haben müssen, sagte Vehrkamp. „Ob die Landeswahlleitung in dem Moment eine schlaflose Nacht hatte? Ich glaube das nicht. Denn dann hätte es eine Krisensitzung mit allen zwölf Bezirken gegeben“, so der Wissenschaftler. Diese aber habe nachweislich nicht stattgefunden. Stattdessen sei lediglich ein Hinweisblatt mit Empfehlungen und Warnungen verteilt worden. „Aber die konstruktive Lösung des Problems ist auf dem Weg von der Landeswahlleitung in die Bezirke versickert“, urteilte Vehrkamp.

Kommission: Großereignis zeitgleich zur Wahl war ein Fehler

Für problematisch hält es die Expertenkommission rückblickend auch, dass zeitgleich zur Superwahl 2021 der Berlin-Marathon stattfand. Das habe nicht nur auf den Anfahrtswegen in die Wahllokale zu Behinderungen geführt, sondern auch die Bedeutung von Wahlen als demokratisches Ereignis geschmälert, so die Experten. Die Kommission sprach sich zudem dafür aus, auch weiterhin Vielfachwahlen durchzuführen. Am 26. September 2021 wurden in Berlin neben dem Bundestag und dem Abgeordnetenhaus auch die Bezirksverordnetenversammlungen gewählt. Zudem stimmten die Berliner über den Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungsunternehmen ab. Die Bündelung verschiedener Abstimmungen sei richtig, erklärten die Fachleute, auch, weil so eine höhere Wahlbeteiligung erzielt werden könne.

In Berlin allerdings hatte das Ankreuzen von gleich fünf Stimmzetteln an dem Tag zu teils langen Warteschlangen vor den Wahllokalen geführt. Auch dafür aber sieht die Kommission strukturelle Fehler als Ursache: Robert Vehrkamp bescheinigte am Mittwoch rückblickend eine „völlig unzureichende logistische Planung der Wahllokale in Berlin“. Hamburg und Bremen hätten in vergleichbaren Fällen ihre Wahlkapazitäten in etwa verdoppelt. Auch in der Landeswahlleitung habe es dazu vorher Überlegungen gegeben. Letztlich hätten dann aber nur etwa ein Viertel mehr Wahllokale und auch nur ein Viertel mehr Wahlkabinen als 2017 zur Verfügung gestanden. Das sei massiv unterschätzt worden, so Vehrkamp.

Experten: Landeswahlleiterin im Augenblick „Königin ohne Land“

In ihrem am Mittwochmorgen an die Innensenatorin Iris Spranger (SPD) übergebenen Bericht empfehlen die Experten nun vor allem strukturelle Reformen. Das betrifft nicht nur das Zusammenspiel zwischen Land und Bezirken, sondern vor allem die Landeswahlleiterin. „Im Augenblick ist die Landeswahlleiterin eine Königin ohne Land“, sagte Stephan Bröchler, Verwaltungswissenschaftler an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Er bescheinigte der Landeswahlleitung „fehlende Eingriffsrechte“. Es habe zuletzt eher ein „Pingpong zwischen verschiedenen Ebenen“ gegeben, so Bröchler. Christian Waldhoff sagte, für das Gelingen künftiger Wahlen sei die Auswahl der richtigen Person für das Amt der Landeswahlleitung entscheidend. Es müsse ein durchsetzungsstarke Persönlichkeit sein, mit Managementqualitäten und Kontakten in die politische Ebene. Er schlug vor, ein Landeswahlamt einzuführen, das auch zwischen den Wahlzeiten bestimmte Funktionen erfüllen solle.

Defizite hatten die Experten nämlich auch bei der Schulung von Wahlhelfern festgestellt. „Schulungen von Wahlhelfern machen die Bezirke zwölfmal unterschiedlich. Das kann nicht sein“, sagte Waldhoff, der für eine Standardisierung warb. Daniela Berger, die Wahlvorständin in einem Briefwahllokal war, sagte, den Wahlhelfern sei kein Vorwurf zu machen. Angesichts der Versäumnisse in der Organisation habe sie beim Start der Aufarbeitung aber viel „Wut im Bauch“ gehabt.

Koalition: Empfehlungen der Kommission schnell umsetzen

Innensenatorin Iris Spranger reagierte am Mittwoch auf den Bericht: „Wir setzen alles daran, gründlich die Lehren aus der Aufarbeitung der aufgetretenen Probleme zu ziehen. Das System muss widerstandsfähig gemacht werden. Wir werden die Vorschläge auswerten und zügig konkrete Maßnahmen zur Umsetzung der Empfehlungen treffen“, sagte Spranger laut Mitteilung. Klar sei, dass es gemeinsam vereinbarte Standards zwischen Senat und Bezirken brauche. Die Einrichtung eines Zentralen Landeswahlamts halte sie zudem für eine gute Idee. Über die Besetzung der Landeswahlleitung solle bald entschieden werden.

Von der Koalition hieß es, die Empfehlungen der Expertenkommission sollten schnell umgesetzt werden. „Die Koalition wird auf der Grundlage der Empfehlungen einen Gesetzentwurf erarbeiten, um das Berliner Wahlrecht in das 21. Jahrhundert zu holen“, sagte der rechtspolitische Sprecher der Linken, Sebastian Schlüsselburg. Die Opposition erklärte, die Kommission halte dem Senat „schonungslos den Spiegel vor“. „Fast alle Probleme waren hausgemacht und vorhersehbar. Um so schlimmer, dass die SPD und der seinerzeit zuständige Innensenator bis heute jede Verantwortung für das Wahlchaos von sich weisen“, erklärte der Generalsekretär der CDU Berlin, Stefan Evers. Von der FDP hieß es, Frau Spranger habe jetzt die Aufgabe, das verlorene Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wiederzuerlangen und den hinterlassen Scherbenhaufen zu beseitigen.

Wegen der massiven Probleme steht eine teilweise oder komplette Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und in Berliner Wahlbezirken zum Bundestag im Raum. Entschieden ist darüber aber noch nicht.

Quelle: https://www.morgenpost.de/berlin/article235818461/Expertengremium-zu-Berliner-Wahlpannen-legt-Bericht-vor.html