Presseschau: Weil Berlin nochmal wählen muss

Diesen wichtigen politischen Projekten droht nun der Stillstand

Von Robert Kiesel, Christian Latz und Julius Betschka | 21.10.2022, 13:55 Uhr

Die Koalition hat viele Projekte angeschoben – einige werden nun auf Eis gelegt. Dazu gehören das Wahlalter ab 16 sowie ein neues Mobilitätsgesetz.

BERLIN. Die sehr wahrscheinliche Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl in Berlin führt an manchen Stellen zu politischem Stillstand. Einerseits beginnt schon jetzt der Wahlkampf, schließlich wird wohl schon im Februar wieder abgestimmt. Das führt dazu, dass in der Koalition umstrittene Projekte nicht mehr vorankommen. Die eine Partei gönnt der anderen jetzt erst recht keine Erfolge mehr. Andererseits besteht eine große rechtliche Unsicherheit: Welche Gesetze darf ein Parlament überhaupt noch beschließen, dessen Wahl nicht regulär abgelaufen ist? „Politische Zurückhaltung ist deshalb das Gebot der Stunde“, sagt ein führendes Mitglied der Koalition dem Tagesspiegel. Darunter werden in den kommenden Monaten viele wichtige Gesetzesvorhaben leiden – auch eine dringend notwendige Verwaltungsreform ist darunter. In diesen weiteren Bereichen droht nun Stillstand:

Der Wohnungsabriss läuft ungehindert weiter 

Wohnraum ist ein knappes Gut in Berlin. Um so bitterer ist es, wenn günstige Wohnungen abgerissen werden, um Platz für teure Apartments zu machen. Diese Praxis wollen Politiker von SPD, Grünen und Linke daher mit einer Novelle des Zweckentfremdungsverbotsgesetzes unterbinden. „Wir müssen rechtlich Klarheit schaffen, dass Wohnraum, der bewohnbar ist, nicht abgerissen werden darf“, sagte die wohnungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion Katrin Schmidberger. Eine große Reform des Gesetzes sei ohnehin zeitlich nicht mehr umsetzbar. Doch ist auch mehr als ungewiss, ob zumindest ein Abrissverbot angesichts der knappen Zeit bis zur Wiederholung der Wahl noch umsetzbar wäre. „Das muss sich in der Woche nach den Herbstferien entscheiden“, sagte Schmidberger. Dann sei eine weitere Koalitionsrunde mit Wohnungsstaatssekretärin Ülker Radziwill (SPD) geplant. Komme das Thema dort nicht entscheidend voran, bleibt es vorerst wohl liegen. Ohnehin schon verschoben wurde die neue, ökologischere Berliner Bauordnung. Im Wahlkampf dürfte es damit erst recht nicht mehr vorangehen. 

Das Wahlgesetz ist schlecht, bleibt aber erhalten

Das Berliner Wahlgesetz schreibt fest, dass Stimmzettelpakete nicht vor dem Wahltag geöffnet und auf ihre Richtigkeit überprüft werden können. Unter anderem diese Regel hatte dazu geführt, dass viele falsche Stimmzettel erst im Laufe des Wahltages auffielen. Auch Kriterien für Wahlprüfungsverfahren und Wahlwiederholungen könnten darin oder zumindest in der Gesetzesbegründung festgeschrieben werden – genauso wie mehr Befugnisse für den Landeswahlleiter. Die Koalition würde das Gesetz gern für die nächste Wahl ändern, eine Arbeitsgruppe im Ältestenrat des Parlaments wird dafür gegründet. Doch vor der Wiederholung der Abstimmung darf das Gesetz nicht mehr geändert werden. Deshalb könnten zumindest teilweise ähnliche Probleme auftreten wie bei der ursprünglichen Wahl im September 2021 – zumal die Expertenkommission Wahlen zum Ergebnis gekommen war, dass auch das Wahlrecht den Anforderungen an eine so komplexe Wahl nicht mehr genügt. Es stammt aus dem Jahr 1987.

Transparenz von Behörden lässt weiter auf sich warten

Der Staat soll für die Bürger nachvollziehbar handeln. Dafür soll in Berlin schon lange ein Transparenzgesetz sorgen. Behörden und landeseigene Unternehmen sollen Informationen dann leicht verständlich öffentlich machen. Ein erster Anlauf für das Gesetz scheiterte schon vor der vergangenen Wahl – die SPD wollte umfangreiche Ausnahmen von den Transparenzbestimmungen. Dieses Jahr sollte es nun beschlossen werden. Doch das steht auf der Kippe. Zwar ist man zumindest bei der Linkspartei noch optimistisch, doch Grüne und SPD bereiten sich schon auf eine erneute Verschiebung bis nach der Wahlwiederholung vor. Alles hänge davon ab, wie der Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung zu einer möglichen Wahlwiederholung die Arbeitsfähigkeit des Parlaments bewerte, sagt Stefan Ziller (Grüne). Weniger zuversichtlich zeigt sich SPD-Experte Jan Lehmann. Er sei schon skeptisch gewesen, als im Sommer der Zeitplan aufgestellt und ein Beschluss bis Ende des Jahres angekündigt worden war, sagte er. 

Die Verwaltungsreform bleibt im Wartestand

Nach der Sommerpause wollte sich die Koalition eigentlich mit dem sogenannten Berliner Behörden-Pingpong befassen. „Allgemeines Zuständigkeitsgesetz“, so lautet der sperrige Titel des Regelwerks, das geändert werden soll. Es klärt die Zuständigkeiten: Was sind Bezirksaufgaben? Welche Aufgaben übernimmt der Senat? Wer hat ein Vetorecht? Endlich sollte mehr Klarheit im Berliner Behördendickicht geschaffen werden. Doch die Wiederholungswahl dürfte das bremsen. Aus den Koalitionsspitzen heißt es schon: kaum noch machbar vor der möglichen Wahl im Februar. Zuversichtlich ist dagegen noch der für die Grünen zuständige Fachpolitiker Stefan Ziller: „Wir sollten unsere Arbeit weitermachen – die Stadt erwartet, dass wir beim Thema Verwaltungsreform vorankommen.“

Die Angst der Sozialdemokraten vor der „City-Maut“

Die Wiederholungswahl bringt auch ein Dauerstreitthema in der Berliner Koalition zum Stillstand: die Abschnitte des Mobilitätsgesetzes zum Wirtschaftsverkehr und zur neuen Mobilität. Eigentlich wollte die Koalition dieses Gesetz schon in der vergangenen Legislaturperiode beschlossen haben. Letztlich platzten aber die Verhandlungen über eine City-Maut dann im Wahlkampf. Und auch jetzt droht wieder eine Verzögerung: „Es gibt leider immer noch keinen geeinten Entwurf des Senats, der die Koalition erreicht hat. Schon allein aus diesem Grund ist eine Beschlussfassung der Ergänzung des Mobilitätsgesetz leider gar nicht mehr möglich“, sagte der Vorsitzende des Mobilitätsausschusses Kristian Ronneburg (Linke). Wirtschaftssenator Stephan Schwarz (parteilos, für SPD) und Verkehrs- und Umweltsenatorin Bettina Jarasch (Grüne) sollen beim Thema neue Mobilität zerstritten sein, heißt es aus Koalitionskreisen. Die Sozialdemokraten sträuben sich unter anderem gegen Passagen, die sie als Einfallstor für eine City-Maut werten. SPD-Verkehrspolitiker Stephan Machulik sieht auch bei der Regulierung der Sharing-Anbieter noch Handlungsbedarf. Auf einen Senatsentwurf konnte man sich unter diesen Voraussetzungen nicht einigen. Deshalb verstaubt auch der eigentlich verabredete Text zum Wirtschaftsverkehr ohne Beschluss.

Das Wählen mit 16 Jahren wird weiter aufgeschoben

Der Zeitplan von SPD-Fraktionschef Raed Saleh war ohnehin knapp bemessen: Bis Ende dieses Jahres sollte das Wahlrecht mit 16 Jahren umgesetzt werden. Die FDP hatte die für eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament notwendige Unterstützung dafür angeboten. Die Koalition ist ohnehin geschlossen dafür. Nun wird wohl auch dieses Projekt verschoben: „Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass ein möglicherweise nicht verfassungskonform gewähltes Parlament die Verfassung nicht ändern sollte“, sagte Björn Jotzo, parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion, dem Tagesspiegel. Auch die Grünen tendieren dazu, das Thema zwar weiter zu beraten, aber die finale zweite Lesung im Parlament nicht mehr vor Februar durchzuführen. SPD-Fraktionschef Saleh würde das Projekt zwar gern voranbringen, ist aber auf die FDP angewiesen. Prognose: Vor Februar wird es nichts mehr.

Verfassungsrichter sollten längst ersetzt sein, müssen aber bleiben

Spätestens am 16. November werden die neun Mitglieder des Berliner Verfassungsgerichtshofs wieder im Rampenlicht stehen: Dann wird das Gericht darüber entscheiden, ob die Abgeordnetenhauswahl komplett (wahrscheinlich) oder nur teilweise (unwahrscheinlich) wiederholt werden muss. Allerdings sollten sechs der Richter:innen schon längst nicht mehr im Amt sein. Vizepräsident Robert Wolfgang Seegmüller sowie die Richter:innen Margarete Gräfin von Galen, Sabrina Schönrock, Sönke Hilbrans, Jürgen Kipp und Ahmet Kurt Alagün wurden alle am 3. Juli 2014 ins Amt gewählt. Da ihre Amtszeit auf sieben Jahre begrenzt ist, hätte die Neuwahl bereits vor der von Pannen überschatteten Abgeordnetenhauswahl im September 2021 stattfinden sollen. Sie fiel dem Wahlkampf zum Opfer – die Richter:innen bleiben im Amt. Vor einer möglichen Wiederholungswahl wird das Abgeordnetenhaus wohl auch keine Neuwahl der Richter veranstalten – zu groß wäre der Verdacht politischer Einflussnahme. Sebastian Schlüsselburg, Rechtspolitiker der Linksfraktion, gibt zu bedenken: „Die Verständigung über die Zugriffe auf die Richterposten basiert auf den aktuellen Mehrheitsverhältnissen im Parlament.“ Sollten sich Letztere durch eine Wiederholungswahl ändern, hätte das Auswirkungen auf die Neubesetzung. 

Quelle: https://www.tagesspiegel.de/berlin/weil-berlin-nochmal-wahlen-muss-diesen-wichtigen-politischen-projekten-droht-nun-der-stillstand-8772712.html