Die Berliner Justiz steht seit der Flucht mehrerer Häftlinge in der Kritik. Die Oppositionsparteien CDU, FDP und AfD bemängeln unter anderem zu wenig Härte und Kontrolle im Justizvollzug. Eine neue Haft-Statistik des Senats erweckt dagegen bei Politikern von SPD und Linken den Eindruck, dass das Berliner Justizwesen besonders streng und unnachgiebig ist. Dabei geht es allerdings nicht um Fluchtversuche und deren Verhinderung, sondern um verkürzte Haftzeiten. Kein Bundesland entlässt so wenige Gefangene vorzeitig wie Berlin.
Nur ein kleine Minderheit der Insassen von Berliner Gefängnissen bekommt die Chance auf einen Strafrabatt. Im Jahr 2017 lag der Anteil der vorzeitig entlassenen Gefangenen an der Gesamtzahl der Entlassenen bei nur 6,8 Prozent. Das geht aus Antworten der Justizverwaltung auf parlamentarische Anfragen von SPD und Linken hervor. Zum Vergleich: In Bremen kamen die meisten Häftlinge vorzeitig frei. Dort waren es 25,2 Prozent der gesamten Entlassenen. Es folgten das Saarland (24,2 Prozent), Bayern (20,0 Prozent) und Brandenburg (19,9 Prozent). Der Bundesschnitt lag bei 14,3 Prozent.
Aus Berlins Haftanstalten wurden im vorigen Jahr 245 Menschen vor dem eigentlichen Haftende nach Hause geschickt. Es war laut Justizverwaltung der niedrigste Stand seit 2012. Damals waren es noch 389 Insassen. Laut Statistik wurden 2017 insgesamt 4 427 Täter aus der Haft entlassen (Stand: Ende November 2017).
Über eine vorzeitige Entlassung entscheidet das Gericht nach einer Prognose des Gefängnisses. Es berücksichtigt auch die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit. Die Insassen müssen zudem einverstanden sein. Laut Strafrecht kann eine Freiheitsstrafe frühestens nach der Hälfte der verbüßten Zeit zur Bewährung ausgesetzt werden. Dafür kommen Täter in Frage, die erstmals verurteilt wurden und nicht mehr als zwei Jahre Haft haben. Häufiger sind Entlassungen nach zwei Dritteln abgesessener Haft.
Haft-Statistik gibt Rätsel auf
Warum der Anteil der vorzeitig Entlassenen je nach Bundesland so stark variiert, und warum er in Berlin so gering ist, wurde aus der Statistik zunächst nicht deutlich. Ein Sprecher der Justizverwaltung sagte auf Anfrage, es gebe nicht den einen Grund. Die Entscheidung liege bei den Strafvollstreckungskammern der Gerichte. In Berlin gebe es womöglich mehr Täter mit höheren Haftstrafen, die für eine frühere Entlassung nicht in Frage kämen.
Der Berliner SPD-Abgeordnete Sven Kohlmeier will es bei diesem Erklärungsmodell nicht belassen. Es reiche womöglich nicht aus, um die starken Differenzen zwischen Berlin und einem als besonders streng geltenden Justizvollzug wie in Bayern plausibel zu machen. Kohlmeier will das Thema deshalb im Rechtsausschuss des Abgeordnetenhauses genauer erörtern.
„Es ist schon auffällig, wie stark die statistischen Werte für Berlin von denen aller anderen Bundesländer abweichen“, sagte Kohlmeier der Berliner Zeitung. Er verweist auf das gesetzliche Leitbild, wonach „kleine Fische“, die sich gut führen und keine Gefahr darstellen, eigentlich nach zwei Dritteln der Haftzeit auf Bewährung entlassen werden sollten. Außerdem sei es angesichts voll belegter Gefängnisse mit derzeit 4100 Insassen überlegenswert, „ob die Ordnung in den Haftanstalten von einer Reduktion der Häftlingszahl profitieren kann“. Das derzeit oft überstrapazierte Personal könne, so Kohlmeier, bei einem besseren Personalschlüssel stärker gegen Drogenhandel vorgehen und Gefängnisausbrüche vermeiden.
Der Linken-Abgeordnete Sebastian Schlüsselburg sieht in der niedrigen Quote der vorzeitigen Entlassungen ein Argument gegen die AfD. „Sie behauptet, dass die Justiz zu lasch sei, aber offenbar ist das Gegenteil richtig“, sagte er. Schlüsselburg stimmt Kohlmeier zu, dass das bestehende gesetzliche Leitbild der Entlassung nach zwei Dritteln der Haftzeit anzustreben sei. (mit dpa)
– Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/29475434 ©2018