Presseschau: Debatte um Ausbau der Berliner Stadtautobahn: Die Verlängerung der A100 ist doppelt verfassungswidrig

Der Weiterbau der A100 ist nicht nur sozial und ökologisch falsch, schreibt der Rechtsexperte der Linken. Notfalls müsse Berlin vor Gericht ziehen. Ein Gastbeitrag.

Von Sebastian Schlüsselburg | 15.08.2022, 10:00 Uhr

BERLIN Mit der Freigabe der Planungsmittel für den 17. Bauabschnitt der A100 durch das FDP-geführte Bundesverkehrsministerium ist in Berlin die politische Debatte über Sinn und Unsinn von Stadtautobahnen wieder ausgebrochen. Vorweg: Die Position der Linke ist eindeutig. Wir haben bereits den Weiterbau der A100 nach Treptow abgelehnt und unter der ehemaligen rot-roten Landesregierung verhindert, dass Berlin das Planfeststellungsverfahren nicht eröffnet hat. Eine Stadtautobahn durch und unter Friedrichshain und Lichtenberg ist ein Relikt aus dem vergangenen Jahrtausend. Sie schlägt eine Schneise der Umwelt- und Kiez-Zerstörung mitten durch die Stadt. Sie würde zu massiven Belastungen für die Umwelt und die in den betroffenen Kiezen lebenden Menschen führen. Die A100 löst keine Verkehrsprobleme, sondern führt an den geplanten Anschlussstellen schon nach Maßgabe der veralteten Verkehrszahlen zu Verkehrsinfarkten. Die Baukosten mit schätzungsweise mindestens 700 Millionen Euro für drei Kilometer Beton wären eine verantwortungslose Steuergeldverschwendung. Die CO2-Bilanz im Bau und im Betrieb wäre eine klimapolitische Katastrophe. Deswegen haben wir gemeinsam mit SPD und Grünen im Koalitionsvertrag vereinbart die A100 nicht weiterzubauen. 

Neben diesen sozialen und ökologischen Gründen – die eigentlich ausreichen sollten, damit eine angeblich auf Klimaschutz bedachte Bundesregierung das Projekt schnellstmöglich beerdigt – ist der Bau von Autobahnen gegen den Willen eines Bundeslandes nach meiner Auffassung aber auch verfassungswidrig und das aus mehreren Gründen. Zunächst wirkt das verwunderlich. Denn ein Blick in Artikel 90 des Grundgesetzes zeigt, dass der Bund Eigentümer der Autobahnen ist und deren Verwaltung und damit auch den Bau allein erledigt. Diese Änderung beschlossen Bundestag und Bundesrat auf Antrag der großen Koalition aus Union und SPD. Sie übertrugen dem Bund die alleinige Zuständigkeit für die Verwaltung und den Bau der Bundesautobahnen. Zuvor waren die Bundesländer im Auftrag des Bundes für diese Aufgaben selbst zuständig. Sie hatten das Verfahren in der Hand, also auch die Planung und den Bau. Der Bund traf nur die grundsätzliche Entscheidung und stellte Geld zur Verfügung. Die Zustimmung der Länder zu dieser Verfassungsänderung wurde vom damaligen FinanzministerWolfgang Schäuble (CDU) mit der Verknüpfung dieser Frage mit dem Beschluss über die Neuordnung des Finanzausgleiches übrigens erpresst. Ohne ihre Zustimmung hätten die Länder auf Milliarden verzichten müssen. 

Das alte System mag kompliziert anmuten und hat sicherlich wie im Falle des Weiterbaus der A100 von Neukölln nach Treptow auch zu Bauverhinderungen geführt. Sie trug aber einem wesentlichen Verfassungsprinzip Rechnung: dem Bundestaats- und Subsidiaritätsprinzip. Bund und Länder stehen sich als eigene Staaten gegenüber und üben eigene Staatsgewalt für ihre Bürgerinnen und Bürger aus. Durch die Wahrnehmung eigener Aufgaben oder von Aufgaben, die möglichst bürgernah sind und deswegen vor Ort durch Länder und Kommunen erledigt werden sollen, wird die Staatsgewalt des Bundes beschränkt. Das verhindert nicht nur Machtkonzentration, sondern zwingt Bund und Länder zur Kooperation. 

Genau das haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes auch beim Autobahnbau gewollt. Zwar hätte nach alter Rechtslage theoretisch der Bund die Länder auch zum Bau einer von ihm politisch gewollten Autobahn anweisen können; dazu ist es aber nie gekommen. Denn der Bau einer Autobahn ist ein schwerwiegender Eingriff in den Grund und Boden der Bundesländer und auch in das private Eigentum. Wenn die demokratisch gewählten Volksvertreterinnen und Volksvertreter und die Regierung eines Landes den irreversiblen Bau einer Autobahn nicht wollen, darf das in einer Republik nicht und schon gar nicht ohne jegliche Mitbestimmung geschehen. 

Der Grund und Boden zählen zudem zu den natürlichen Lebensgrundlagen. Seit dem Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts haben wir die verfassungsrechtliche Pflicht mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam umzugehen, „dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten“. Zur Schonung dieser künftigen Freiheit muss der Staat den Übergang zur Klimaneutralität rechtzeitig einleiten, wie es das Gericht formulierte. Bau und Betrieb einer Autobahn ist das Gegenteil von klimaneutral und widerspricht jeder zukunftsgerichteten ökologischen Verkehrspolitik. Da hilft auch kein CDU-Greenwashing mit Solardach und Fahrradspuren. Deswegen ist der Weiterbau der A100 doppelt verfassungswidrig und muss schnellstmöglich vom Bund gestoppt werden. Tut er das nicht, muss Berlin sich gerichtlich dagegen wehren. 

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Schneise. Eine Stadtautobahn durch und unter Friedrichshain und Lichtenberg sei ein Relikt aus dem vergangenen Jahrtausend, schreibt Gastautor Sebastian Schlüsselburg. Er setzt sich seit langem gegen den Weiterbau der A100 ein. Foto: dpa/Wolfgang Kumm Sebastian Schlüsselburg (39) sitzt für die Linkspartei im Berliner Parlament. Foto: Wikimedia

Quelle: https://plus.tagesspiegel.de/berlin/debatte-um-ausbau-der-berliner-stadtautobahn-die-verlangerung-der-a100-ist-doppelt-verfassungswidrig-8560021.html