Diskussionspapier zur Debatte um die Verfassungsmäßigkeit des Berliner Neutralitätsgesetzes vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Das Diskussionspapier wurde im Januar 2018 als Beitrag zur Diskussion um das sogenannte Neutralitätsgesetz im Berliner Landesverband der LINKEN erarbeitet. Insofern sind die jüngsten Urteile zu der Thematik nicht Bestandteil der Erarbeitung. Aber auch wenn die schriftliche Urteilsbegründung noch aussteht, scheint zumindest das Landesarbeitsgericht die in diesem Papier vertretene Rechtsauffassung zu bestätigen [LINK]. 

1.     Einleitung

Die aktuelle Debatte zum Berliner Neutralitätsgesetz (eigentl. „Gesetz zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin“) ist eine hitzige und komplizierte. Das zentrale Problem ist, dass sich in der Debatte eine ganze Reihe von Ebenen überlagern, die meist auch nicht trennscharf betrachtet werden.

Anlass der Debatte ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die eine Norm des Schulgesetzes von Nordrhein-Westphalen für verfassungswidrig erklärt hat. Hier wurde vor dem Hintergrund des Artikel 4 Absatz 1 und Artikel 2 Grundgesetz geurteilt. Die Urteilsbegründung lässt dabei relativ sicher erkennen, dass auch das Berliner Neutralitätsgesetz in seiner aktuellen Form nicht vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben würde. Zugleich zeigt es den sehr begrenzten Rahmen auf, im dem das Verbot religiöser Symbole statthaft sein könnte. Ein Verbot entsprechend des Berliner Neutralitätsgesetzes würde einer weitreichenden Verfassungsänderung mit erheblichen Eingriffen in individuelle Grundrechte bedürfen. Dies ist die juristische Dimension der Debatte. Sie wird leider weitestgehend ausgeblendet.

Zentraler für die aktuelle Debatte ist in der Öffentlichkeit die Frage des Verhältnisses von Staat und Religion. Dies stimmt allerdings so abstrakt nicht, denn tatsächlich geht es meist nur um das Verhältnis zum Islam. Lediglich in der LINKEN ist dadurch die alte Frage nach dem Verhältnis zwischen Staat und religiösen Institutionen wieder virulent geworden.

Zugleich ist die Debatte über das Verhältnis von Staat und Religion bzw. Islam oftmals lediglich eine Schablone für eine Debatte über Zuwanderung bzw. die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund. Dabei muss das Kopftuch, um das es ja in der Regel nahezu exklusiv in all diesen Debatten geht, als Symbol für alle Versäumnisse und Probleme der sich ethnisch und kulturell diversifizierenden Gesellschaft herhalten.

Schließlich und endlich wird in der Debatte um das Neutralitätsgesetzt auch wieder einmal die Debatte um das Kopftuch als Symbol für die Unterdrückung der Frau geführt.

All diese Aspekte werden in unterschiedlichen Gewichtungen, mit unterschiedlicher Intensität und unterschiedlicher Qualität mehr oder minder gleichzeitig diskutiert. Dies führt zu teils hoch emotionalen Debatten. Dieser Text versucht die unterschiedlichen Debattenstränge jeweils gesondert zu betrachten und zu bearbeiten. Er konzentriert sich dabei vor allem auf die Darlegung der rechtlichen Rahmenbedingungen. Auf die weiteren Debattenstränge wird nur kursorisch eingegangen.

2.     Die rechtliche Debatte

2.1 Ausgangslage und Fragestellung:

Im September 2003 urteilte der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) erstmals über die Frage eines Kopftuchverbotes im öffentlichen Schuldienst.[1] Der Beschwerdeführerin wurde der Zugang zum Schuldienst durch amtlichen Bescheid mit Verweis auf das Tragen des Kopftuches verwehrt. Das BVerfG tenorierte in diesem Urteil zunächst nur, dass es für ein solches Verbot einer landesgesetzlichen Rechtsgrundlage bedürfe und gab der Beschwerde statt. Im Januar 2005 reagierte das Abgeordnetenhaus und erließ das sogenannte Neutralitätsgesetz, welches das sichtbare Tragen von religiösen Symbolen und Kleidungsstücken in der öffentlichen allgemeinbildenden Schule und anderen staatlichen Einrichtungen regelt.[2] Die für den Schulbereich entscheidende Norm lautet wie folgt:

„§ 2 Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen. Dies gilt nicht für die Erteilung von Religions- und Weltanschauungsunterricht.“

Der Wortlaut der Norm ist insoweit unmissverständlich, als er in Satz 1 ein abstrakt-generelles Verbot zum Tragen sichtbarer religiöser oder weltanschaulicher Symbole sowie entsprechenden Kleidungsstücken statuiert („dürfen … keine … tragen“). Ausnahmetatbestände sind im Folgenden § 3 lediglich für den Bereich der beruflichen Schulen und Einrichtungen des zweiten Bildungsweges vorgesehen.

Im Übrigen ist im – im sog. Neutralitätsgesetz nicht gesondert genannten – Bereich des gesamten öffentlichen Dienstes einschließlich der nachgeordneten Behörden und Anstalten in Ermangelung eines gesetzlichen Verbotes das Tragen von religiösen Symbolen und Kleidungsstücken erlaubt.[3]

Das BVerfG musste nach dem Erlass entsprechender pauschaler Verbote verschiedener Landesgesetzgeber die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelungen überprüfen und tat dies mit dem Urteil des ersten Senats am 27. Januar 2015.[4] Anders als noch im vorangegangenem Urteil umfasste nunmehr auch der Tenor den Stellenwert der Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs.  1 und 2 GG) bei der vorzunehmenden Abwägung der widerstreitenden Grundrechte (dazu sogleich).

2.1.1 Kopftuch-II-Entscheidung des BVerfG:

Sachverhalt und Rechtsgrundlage:

Anlass der Entscheidung waren die Beschwerden zweier Beschwerdeführerinnen gegen arbeitsgerichtliche Entscheidungen. Es ging um arbeitsrechtliche Sanktionen (Abmahnung und Kündigung), die das Land NRW gegen eine Lehrerin bzw. eine Sozialpädagogin ausgesprochen hatte, weil sie sich weigerten, im Dienst ihre Kopftücher bzw. die als Ersatz getragene Wollmütze abzusetzen.

Die streitige Landesnorm war § 57 Absatz 4 SchulG NW in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes vom 13. Juni 2006 (GV.NRW. S. 270):

„(4) Lehrerinnen und Lehrer dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußere Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülerinnen und Schülern oder den Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrerin oder ein Lehrer gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt. Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 7 und 12 Abs. 6 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1. 4 Das Neutralitätsgebot des Satzes 1 gilt nicht im Religionsunterricht und in den Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen.“

Tenor:

Das BVerfG entschied, dass § 57 Absatz 4 Satz 3, also der Privilegierungstatbestand für christlich-abendländische Darstellungen mit Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 und mit Artikel 33 Absatz 3 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig ist (Entscheidung Nr. 1).

Zugleich entschied es, dass § 57 Absatz 4 Sätze 1 und 2, soweit sie religiöse Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild betreffen, nach Maßgabe der Gründe, also nur mit folgender verfassungskonformer Auslegung, mit dem Grundgesetz vereinbar sind (Entscheidung Nr. 2). Da die arbeitsgerichtlichen Urteile gerade keine verfassungskonformen Auslegungen vorgenommen hatten, verletzten sie die Beschwerdeführerinnen in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und wurden aufgehoben (Entscheidungen Nr. 3 und 4). Anders ausgedrückt hat das BVerfG sehr enge Grenzen für solche Verbote gezogen und zwar aus folgenden Gründen:

Entscheidungsgründe:

Das Gericht stützt sein Urteil auf das Grundrecht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Artikel 4 Abs. 1 und 2 GG. Sie lauten:

„(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“

Für das weitere Verständnis des Urteils und insbesondere des Ergebnisses der Abwägung des Gerichtes ist es wichtig zu wissen, dass dieses Grundrecht ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht ist. Anders als andere Grundrechte (z.B. das Post- und Fernmeldegeheimnis des Art. 10 GG) erlaubt es keinen Eingriff aufgrund eines Gesetzes. In das Grundrecht darf also nur solange und soweit eingegriffen werden, wie es andere Grundrechte oder Güter von Verfassungsrang erlauben (sog. praktische Konkordanz). Es erfolgt also eine behutsame Abwägung dieses Grundrechtes mit anderen in Rede stehenden, möglicherweise begrenzenden Grundrechten. Dabei ist aber zu beachten, dass am Ende dieses Abwägungsprozesses sich nicht eines der widerstreitenden Grundrechte gegenüber den anderen maximal behaupten darf. Es muss immer ein Kernbestandteil des Grundrechtsschutzes verbleiben.

Kopftuch unterfällt dem Schutz von Art. 4 GG:

Insbesondere für die gesellschaftliche Debatte ist es wichtig zu betonen, dass das BVerfG eindeutig klargestellt hat, dass das Tragen eines Kopftuches unabhängig von verschiedenen Richtungen des Islam von Art 4 GG geschützt wird. Es kommt allein darauf an, dass die Betroffenen plausibel darlegen können, dass das für sie persönlich das Tragen des Kopftuches ein elementarer Bestandteil einer am Islam ausgerichteten Lebensweise ist:

„Diese religiöse Fundierung der Bekleidungswahl ist auch mit Rücksicht auf die im Islam vertretenen unterschiedlichen Auffassungen zum sogenannten Bedeckungsgebot nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung hinreichend plausibel. Dabei kommt es nicht darauf an, dass der genaue Inhalt der Bekleidungsvorschriften für Frauen unter islamischen Gelehrten durchaus umstritten ist. Es genügt, dass diese Betrachtung unter den verschiedenen Richtungen des Islam verbreitet ist und insbesondere auf zwei Stellen im Koran (Sure 24, Vers 31; Sure 33, Vers 59) zurückgeführt wird (vgl. Asad, Die Botschaft des Koran – Übersetzung und Kommentar, 2009, S. 676 f., 810; vgl. auch Heine, Kleiderordnung, in: Handbuch Recht und Kultur des Islams in der deutschen Gesellschaft, 2000, S. 184 <186 f.>). Ein Bedeckungsgebot wird im Islam teilweise auch als unbedingte Pflicht eingeordnet (vgl. Khoury, Das islamische Rechtssystem, in: Handbuch Recht und Kultur des Islams in der deutschen Gesellschaft, 2000, S. 37 <52>). Unter diesen Umständen kommt es nicht darauf an, dass andere Richtungen des Islam ein als verpflichtend geltendes Bedeckungsgebot für Frauen nicht kennen (vgl. BVerfGE 108, 282 <298 f.>).“[5]

Ein Eingriff, der mit dem Verbot des Tragens eines islamischen Kopftuchs oder einer anderen Kopf- und Halsbedeckung in Erfüllung eines religiösen Gebots verbunden ist, wiegt schwer.[6] Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, als dass „ein Verbot dieser Bedeckung im Schuldienst für sie sogar den Zugang zum Beruf verstellen kann (Art. 12 Abs. 1 GG).“[7] Das BVerfG betont an dieser Stelle bereits die antidiskriminierungsrechtliche Komponente indem es ausführt:

„Dass auf diese Weise derzeit faktisch vor allem muslimische Frauen von der qualifizierten beruflichen Tätigkeit als Pädagoginnen ferngehalten werden, steht zugleich in einem rechtfertigungsbedürftigen Spannungsverhältnis zum Gebot der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen (Art. 3 Abs. 2 GG). Vor diesem Hintergrund greift das gesetzliche Bekundungsverbot in ihr Grundrecht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit trotz seiner zeitlichen und örtlichen Begrenzung auf den schulischen Bereich mit erheblich größerem Gewicht ein, als dies bei einer religiösen Übung ohne plausiblen Verbindlichkeitsanspruch der Fall wäre.“[8]

Eingriff durch pauschales Kopftuchverbot ist unverhältnismäßig:

Konkret hatte das BVerfG die (positive) Religionsfreiheit der Beschwerdeführerinnen einerseits gegen die (negative) Religionsfreiheit der Schüler, das elterliche Erziehungsrecht sowie das staatliche Neutralitätsgebot und den Schulfrieden abzuwägen. Es ist zu dem Ergebnis gekommen, dass ein pauschales Kopftuchverbot unverhältnismäßig schwer in die Glaubensfreiheit eingreift und damit verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden kann:

„Das Einbringen religiöser oder weltanschaulicher Bezüge in Schule und Unterricht durch pädagogisches Personal kann den in Neutralität zu erfüllenden staatlichen Erziehungsauftrag, das elterliche Erziehungsrecht und die negative Glaubensfreiheit der Schüler beeinträchtigen. Es eröffnet zumindest die Möglichkeit einer Beeinflussung der Schulkinder sowie von Konflikten mit Eltern, was zu einer Störung des Schulfriedens führen und die Erfüllung des Erziehungsauftrags der Schule gefährden kann. Auch die religiös motivierte und als Kundgabe einer Glaubensüberzeugung interpretierbare Bekleidung von Lehrkräften kann diese Wirkungen haben (vgl. BVerfGE 108, 282 <303>). Allerdings kommt keiner der gegenläufigen verfassungsrechtlich verankerten Positionen ein solches Gewicht zu, als dass bereits die abstrakte Gefahr ihrer Beeinträchtigung ein Verbot zu rechtfertigen vermöchte, wenn auf der anderen Seite das Tragen religiös konnotierter Bekleidung oder Symbole nachvollziehbar auf ein als imperativ verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist.[9]

An dieser Stelle macht das BVerfG deutlich, wo die Trennlinie zwischen einem (noch) verfassungskonformen, bereichspezifischem Verbot einerseits und einem verfassungswidrigen, weil abstrakt-generellem Verbot andererseits verläuft. Die Glaubensfreiheit hat nur solange und soweit zurückzustehen, als gerade das Tragen von Kopftüchern zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität führt.[10] Zugleich hat es diese Hürde praktisch sehr hoch gelegt:

„Dies wäre etwa in einer Situation denkbar, in der – insbesondere von älteren Schülern oder Eltern – über die Frage des richtigen religiösen Verhaltens sehr kontroverse Positionen mit Nachdruck vertreten und in einer Weise in die Schule hineingetragen würden, welche die schulischen Abläufe und die Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrags ernsthaft beeinträchtigte, sofern die Sichtbarkeit religiöser Überzeugungen und Bekleidungspraktiken diesen Konflikt erzeugte oder schürte.“

Aber: Möglichkeit von bereichspezifischen Verboten besteht:

Das BVerfG hat dem Gesetzgeber indes gestattet, unter gewissen Umständen zeitlich und örtlich begrenzte Lösungen für substantielle Konflikte an Schulen, die die o.g. Schwelle einer bloß abstrakten Gefahr überschreiten, zu finden. Bestandteil einer solchen Lösung kann auch mit einer hinreichend konkreten gesetzlichen Verordnungsermächtigung ein begrenztes Kopftuchverbot sein. Dies ist allerdings nur als ultima ratio zulässig. Im Interesse der Grundrechte der Betroffenen sind zunächst anderweitige pädagogische Lösungen zu suchen.[11]

Einen weiteren Hinweis zu der Frage, in welchen staatlichen Bereichen ein Verbot religiöser Symbole oder Kleidungsstücke möglich ist, gibt das BVerfG mit seinem Beschluss der 1. Kammer des zweiten Senats vom 27. Juni 2017 (2 BvR 1333/17). Hier ging es um die einstweilige Anordnung einer Rechtsreferendarin, ihr Kopftuch während der Ausbildung im Gerichtssaal auf der Richterbank tragen zu dürfen. Auch wenn der Ausgang des Hauptsacheverfahrens noch abzuwarten ist, wurde der Antrag abgelehnt und mithin (vorläufig) das Verbot für den Bereich des Rechtsreferendariats insoweit zugelassen, als es sich um Ausbildungsphasen handelt, bei der die Auszubildenden Spruchtätigkeit auf der Richterbank oder Anklagetätigkeit für die Staatsanwaltschaft ausüben:

Das gesetzliche Bekundungsverbot greift in die Grundrechte der Beschwerdeführerin allerdings in zeitlicher sowie örtlicher Hinsicht lediglich begrenzt ein, indem die Beschwerdeführerin ausschließlich von der Repräsentation der Justiz oder des Staates im Rahmen der Ausbildung ausgeschlossen wird, soweit sie das Kopftuch tragen möchte. So erstreckt sich das Verbot etwa auf den Zeitraum einer mündlichen Verhandlung und das Platznehmen hinter der Richterbank. Hingegen bleiben die übrigen, weit überwiegenden Ausbildungsinhalte im Rahmen der Einzelausbildung oder der Arbeitsgemeinschaften unberührt.“[12]

Darüber hinaus führt es bei dieser Gelegenheit aus, dass für Richter ein umfassendes Kopftuchverbot jedenfalls für Verhandlungen geboten ist:

„Das Grundgesetz gewährleistet den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens, vor einem unabhängigen und unparteilichen Richter zu stehen, der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten und dem Verfahrensgegenstand bietet (vgl. BVerfGE 4, 412 <416>; 21, 139 <145 f.>; 23, 321 <325>; 82, 286 <298>; 89, 28 <36>). Neben der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit des Richters (Art. 97 Abs. 1 und 2 GG) ist es wesentliches Kennzeichen der Rechtsprechung im Sinne des Grundgesetzes, dass die richterliche Tätigkeit von einem „nicht beteiligten Dritten“ ausgeübt wird (vgl. BVerfGE 3, 377 <381>; 4, 331 <346>; 21, 139 <145>; 27, 312 <322>; 48, 300 <316>; 87, 68 <85>; 103, 111 <140>). Diese Vorstellung von neutraler Amtsführung ist mit den Begriffen „Richter“ und „Gericht“ untrennbar verknüpft (vgl. BVerfGE 4, 331 <346>; 60, 175 <214>; 103, 111 <140>). Die richterliche Tätigkeit erfordert daher unbedingte Neutralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten (BVerfGE 21, 139 <146>; 103, 111 <140>). Das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährt deshalb nicht nur einen Anspruch auf den sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, den Prozessordnungen sowie den Geschäftsverteilungs- und Besetzungsregelungen des Gerichts ergebenden Richter (vgl. BVerfGE 89, 28 <36>), sondern garantiert auch, dass der Betroffene nicht vor einem Richter steht, der aufgrund persönlicher oder sachlicher Beziehungen zu den Verfahrensbeteiligten oder zum Streitgegenstand die gebotene Neutralität vermissen lässt (BVerfGE 21, 139 <146>; 89, 28 <36>).“[13]

Daraus lässt sich mit aller gebotenen Vorsicht ableiten, dass das BVerfG bei der Frage von gesetzlichen Bekundungsverboten möglicherweise von dem jeweilig betroffenen staatlichen Regelungsgebiet leiten lässt. Je mehr eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst hoheitlich geprägt ist, desto eher muss das Grundrecht auf Religionsfreiheit dahinter zurücktreten ohne jedoch gänzlich verdrängt werden zu dürfen.  Es ist der Rechtsreferendarin oder dem Richter zwar nicht gestattet eine religiöse Bekundung während der (hoheitlichen) Ausübung ihrer Tätigkeit vorzunehmen. Gleichwohl ist dies zeitlich und örtlich zulässig, solange und soweit beide keinen Verfahrensbeteiligten gegenüberstehen. Eine solche bereichspezifische Austarierung erscheint rechtlich zulässig und im Übrigen auch der gesellschaftspolitisch verträglichste. Er dürfte auf andere hoheitliche Bereiche des öffentlichen Dienstes übertragbar sein (z.B. den Polizeidienst, den Justizvollzug etc.).

Bindungswirkung der Kopftuch-II-Entscheidung des BVerfG:

Vereinzelt wird in der öffentlichen Debatte die Bindungswirkung der Kopftuch-II-Entscheidung des BVerfG in Frage gestellt und versucht eine Divergenz zwischen der ersten und der zweiten Entscheidung aufzumachen. Tatsächlich hätte die Möglichkeit bestanden, den sog. großen Senat anzurufen und dort eine gemeinsame Entscheidung beider Senate herbeizuführen. Allerdings ist der erste Senat gemäß § 14 Absatz 1 BverfGG der für Verfassungsbeschwerden zuvorderst zuständige Senat. Folglich war seine Zuständigkeit beim Kopftuch-II-Verfahren zweifelsfrei gegeben und außerdem hat er sich im Rahmen seines Urteils intensiv mit der Kopftuch-I-Entscheidung befasst und in diesem Lichte seine Entscheidung getroffen. Insofern bestand keine Pflicht der Anrufung des großen Senats. Hinsichtlich der Bindungswirkung legt § 31 Absatz 2 BVerfGG fest, dass diese Entscheidung des BVerfG Gesetzeskraft hat und alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden bindet (§ 31 Absatz 1 BVerfGG).

2.1.2 Rechtliche Auswirkungen auf das sog. Berliner Neutralitätsgesetz:

Gesetz zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin § 57 Absatz 4 SchulG NRW
1.1.1         „§ 2

Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen. Dies gilt nicht für die Erteilung von Religions- und Weltanschauungsunterricht.“

 

„(4) Lehrerinnen und Lehrer dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußere Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülerinnen und Schülern oder den Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrerin oder ein Lehrer gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt. Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 7 und 12 Abs. 6 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1. Das Neutralitätsgebot des Satzes 1 gilt nicht im Religionsunterricht und in den Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen.“

Bereits der Vergleich des Wortlautes der Normen zeigt, dass die Berliner Regelung ebenso wie die aus NRW ein gebundenes Pauschalverbot für Lehrerinnen und Lehrer darstellt. Überdies enthält sie tatbestandlich noch nicht einmal das Erfordernis der Gefährdung oder Störung des Schulfriedens. Gerade die stellt aber, unter Beachtung der erheblichen Schwelle des BVerfG, überhaupt die einzig denkbare Möglichkeit dar in bereichspezifischen Ausnahmefällen überhaupt ein örtlich und zeitlich begrenztes Kopftuchverbot zu statuieren. Insoweit schließt sich ich mich dem Ergebnis des wissenschaftlichen Parlamentsdiensts des Abgeordnetenhauses an. Die Berliner Regelung verstößt insoweit gegen das Grundgesetz.[14] Insoweit markiert auch die jüngste Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin vom Februar 2017 den Anfang vom Ende der entsprechenden Regelungen im sogenannten Neutralitätsgesetz.

 Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wendet die Kopftuch-II-Entscheidung an:

Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wendet in seiner durch die Medienberichterstattung bekannt gewordenen Entschädigungsentscheidung vom 9.2.2017 das Kopftuch-II-Urteil des BVerfG an. In seiner Urteilsbegründung führt es aus, dass die Diskriminierung gerade auch auf diese Entscheidung gestützt wird:

„Nach der Rechtsprechung des 1. Senats des BVerfG, der sich die erkennende Kammer angeschlossen hat, verletzt ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte an öffentlichen Schulen deren Grundrecht aus Art. 4 I und II GG auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (BVerfGE 138, 296 = NJW 2015, 1359 = NVwZ 2015, 884; vgl. auch NZA 2016, 1522 = NJW 2017, 381 = NVwZ 2017, 549zum Kopftuchverbot für Erzieherinnen an öffentlichen Kindertagesstätten).“[15]

„§ 2 S. 1 NeutrG verbietet nach seinem Wortlaut das Tragen von auffallend religiös geprägten Kleidungsstücken, ohne dies von weiteren Voraussetzungen, wie zB vom Vorliegen einer konkreten Gefahr, abhängig zu machen und stellt damit jedenfalls nach seinem Wortlaut ein pauschales Kopftuchverbot dar. Dieses pauschale Kopftuchverbot verletzt die Kl. in ihrem Grundrecht aus Art. 4 I und 2 GG.“[16]

 „Im vorliegenden Fall verdrängt § 2 S. 1 NeutrG in unangemessener Weise das Grundrecht der Kl. aus Art. 4 I und II GG. Wie oben unter (c) ausgeführt wurde, ist mit dem Tragen eines Kopftuchs durch einzelne Lehrerinnen – anders als dies beim staatlich verantworteten Kreuz oder Kruzifix im Schulzimmer der Fall ist – keine Identifizierung des Staats mit einem bestimmten Glauben verbunden. Auch eine Wertung in dem Sinne, dass das glaubensgeleitete Verhalten der Lehrerinnen schulseits als vorbildhaft angesehen und schon deshalb der Schulfrieden oder die staatliche Neutralität gefährdet oder gestört werden könnte, ist einer entsprechenden Duldung durch den Dienstherrn nicht beizulegen. Hinzu kommt, dass die Kl. einem nachvollziehbar als verpflichtend empfundenen Glaubensgebot Folge leistet. Dadurch enthält ihre Glaubensfreiheit in der Abwägung mit den Grundrechten der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern, die der weltanschaulich-religiös neutrale Staat auch im schulischen Bereich schützen muss, ein erheblich größeres Gewicht als dies bei einer disponiblen Glaubensregel der Fall wäre (vgl. entsprechend BVerfGE 138, 296 = NJW 2015, 1359 = NVwZ 2015, 884). dd) Aufgrund der Rechtsprechung des 1. Senats des BVerfG zu den Kopftuchverboten in öffentlichen Schulen und öffentlichen Kindertagesstätten und aufgrund der Ausführungen oben unter cc) bestehen erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung in § 2 S. 1 NeutrG.“[17]

In der Folge legt es im Sinne der Kopftuch-II-Entscheidung § 2 S.1 des sog. Neutralitätsgesetzes sehr eng aus und hat daher der Entschädigungsklage stattgegeben.

2.2 Politische Lösungsmöglichkeiten:

DIE LINKE hat ihre Position im Wahlprogramm gerade im Hinblick auf die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG wie folgt gefasst:

„Kopftuchtragende Muslima sind, zusätzlich zur geschlechterbedingten Benachteiligung, rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist das Neutralitätsgesetz zu überprüfen. DIE LINKE setzt sich dafür ein, aus dem Gesetz entstehende Diskriminierungen kopftuchtragender muslimischer Frauen abzuschaffen. Konflikten, die aus der Wahrnehmung der Glaubens- und Gewissenfreiheit resultieren, muss mit anderen Maßnahmen begegnet werden.“[18]

Die Grünen haben auf ihrer LDK im Dezember unlängst folgende Position bezogen:

„Junge Muslimas der sogenannten zweiten und dritten Generation wollen mit Kopftuch an Berliner Schulen unterrichten. Sie erleben das Berliner Neutralitätsgesetz als Berufsverbot und wehren sich dagegen. Vor diesem Hintergrund wird in Berlin heftig darüber diskutiert, ob das Neutralitätsgesetz geändert werden muss. Wir stellen fest, dass sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein pauschales Verbot des Kopftuchs für Lehrer*innen nicht mehr halten lässt. Wir wollen eine lösungsorientierte Debatte vorantreiben, die sich an praktischen Erfordernissen von Schulen orientiert.“[19]

Die SPD hat hingegen wiederum auf ihrem vergangenen Landesparteitag ihre Beschlusslage bekräftigt, am sogenannten Neutralitätsgesetz festhalten zu wollen:

„Die SPD Berlin hält am Neutralitätsgesetz fest!
Keine religiösen Symbole an öffentlichen Schulen in Berlin!
Das Gesetz behandelt Angehörige aller Religionen gleich und untersagt allen LehrerInnen in öffentlichen Schulen sowie Bediensteten in Polizei und Justiz das Tragen sichtbarer religiöser und weltanschaulicher Symbole.

Wir SozialdemokratInnen wissen uns dabei im Einklang mit vielen LehrerInnen und BürgerInnen, die das sichtbare Tragen religiöser Symbole als Form der unzulässigen Beeinflussung Heranwachsender betrachten.“[20]

Vor diesem Hintergrund erscheint zumindest im Moment fraglich, ob sich die SPD in dieser Frage auf die anderen Koalitionspartner zubewegen wird. Bliebe die SPD bei dieser Haltung, wäre die Koalition nicht im Stande, die verfassungswidrige Lage im sog. Neutralitätsgesetz zu heilen. Auch politisch ist diese Blockadehaltung nicht klug. Es ist nur eine Frage der Zeit bis Beschwerdeführer die verfassungswidrigen Teile des Berliner Gesetzes zu Fall bringen werden. Auf eine absehbare verfassungsgerichtliche Niederlage zu warten und sich eine Frist zur Neuregelung durch das Gericht setzen zu lassen ist für den ohnehin erforderlichen Gesetzgebungsprozess nicht sinnvoll.

Besser wäre es, als Landesgesetzgeber selbst tätig zu werden und ein mit den Grundrechten vereinbares religiöses und weltanschauliches Bekundungsverbot selbst zu regeln. Der Bearbeiter schlägt hierbei vor, die tatsächlich hoheitlich geprägten Tätigkeiten im öffentlichen Dienst solange und soweit Dienste und Dienstzeiten betroffen sind, bei denen Kontakt mit den Rechtsunterworfenen besteht, mit einem räumlich und zeitlich begrenzten Bekundungsverbot auszustatten. Dafür bedürfte es einer entsprechend überarbeiteten Gesetzesgrundlage, einer hinreichend konkreten Verordnungsermächtigung und darauf fußende bereichspezifisch austarierte Regelungen.

Dies wäre statthaft für den Polizeidienst, die Richterschaft, die Staatsanwaltschaft, den Justizvollzug, den Finanzamtsdienst, die Ausländerbehörde o.ä. Bereiche, sofern es sich nicht um Innendienst ohne Publikumsverkehr handelt. Im Bereich der Schule ist ein Verbot nur in den engen Grenzen des BVerfG zulässig und auch dann nur ultima ratio nach anderen pädagogischen Maßnahmen (s.o.). Dies ist auch konsequent, da nur ein sehr geringer Bestandteil der Lehrtätigkeit überhaupt noch eine hoheitliche Prägung aufweist. Für den Bereich der Kitas und anderer Einrichtungen frühkindlicher Bildung ist ein Verbot rechtlich wohl kaum begründbar.

3.    Zu den weiteren Debattensträngen

Persönliche Stellungnahme zur politischen Diskussion um das Neutralitätsgesetz

Als LINKE/Linke sollten wir uns in der Diskussion mit dem Koalitionspartner aber vor allem auch mit der Stadtgesellschaft nicht auf die rein legalistische Argumentation zurückziehen, sondern das Thema progressiv nach vorne diskutieren.

Religionsverständnis

Das häufig sogenannte Berliner Neutralitätsgesetz ist keineswegs neutral. Das in ihm formulierte säkulare Religionsverständnis ist geprägt vom protestantischen Christentum und dem dort vorherrschenden Verständnis von Religion als innerem Glauben. Es privilegiert entsprechend solche Formen der Religion und diskriminiert Religionen, in denen die Religionspraxis auf äußere Handlungen ausgerichtet ist, wie z.B. Islam und Judentum.

Staatsverständnis

Aus dem Neutralitätsgesetz spricht auch ein anachronistisches Staatsverständnis. Ausgehend von der Französischen Revolution trat in der Staatstheorie des 19. Jahrhunderts der (Beamten-)„Staat“ zunehmend an die Stelle der royalen Majestät, der als idealisierte (neutrale) Instanz quasi über der Gesellschaft und ihren tagesaktuellen Auseinandersetzungen schwebte. In den ethnisch, kulturell und religiös noch homogeneren Gesellschaften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mag dies theoretisch noch überzeugt haben können – faktisch führte es aber bereits dort zu Diskriminierungen und Konflikten, wie z.B. dem Kulturkampf in Preußen bzw. dem deutschen Kaiserreich. In einer Gesellschaft, die ethnisch, kulturell und religiös immer vielfältiger wird, führt das Festhalten an der Erwartung, dass Individuen im Staatsdienst als gesellschaftliches Neutrum aufzutreten hätten, zunehmend zu Konflikten und einer Entfremdung von Staat und Gesellschaft. Solange sie in ihrem Handeln als Staatsbedienstete die Neutralitätspflicht wahren, spricht wenig dagegen, dass sie auch als Menschen unterschiedlichster ethnischer, kultureller sowie religiöser Prägungen erkennbar werden und somit die Gesellschaft in ihrer Vielfältigkeit widerspiegeln.

Diversität

Nicht unerheblich für die Diskussion ist auch der Zeitpunkt, zu dem es von politischer Seite plötzlich für Notwendig erachtet wurde, sogenannte „Neutralitätsgesetze“ zu verabschieden. Solange es nur weiße Christin*innen waren, die als Staatsbedienstete öffentlich auch im Dienst Symbole ihres Glaubens zeigten, war dies weder für die Mehrheit der Gesellschaft noch die Parteien ein Problem. Es störte und stört sich auch kaum jemand daran, wenn „Putzfrauen“ auch im Amtsgebäude Kopftuch tragen. Die „Neutralitätsgesetze“ kamen erst zu Zeiten und an Orten, in denen sich im sozialen Gefüge etwas zu bewegen begann; dort wo Frauen, die Kopftuch tragen, zunehmend in der Gesellschaft sichtbar werden und als Akademikerinnen aufsteigen. Erst hier wird plötzlich breit darüber diskutiert, ob das Kopftuch Ausdruck von Unterdrückung ist. Damit entlarven sich die Debatten auch zu einem Teil als Abwehrhaltung gegenüber Diversität, gegenüber dem Aushalten und der Anerkennung von Anderssein. Darüber hinaus werden hier Muslima, v.a. mit Migrationshintergrund, oftmals unter dem Etikett des Kampfes für die Frauenrechte entmündigt, indem ihre individuellen Bekundungen gegenüber den Interpretationen Dritter entwertet werden.

4.    Abschlussbetrachtungen

Mit seiner jüngsten Entscheidung zu einem vermeintlichen Neutralitätsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht relativ klare und enge Rahmen für mögliche Eingriffe in individuelle Grundrechte unter dem Label des Schutzes der staatlichen Neutralität gesetzt. Diese ließen sich nur durch eine Grundgesetzänderung verändern. Es sollte aber nicht gerade DIE LINKE sein, die eine Bewegung zur Einschränkung individuelle Grundrechte anführt – oder ihr überhaupt angehören. Zur individuellen Freiheit gehört es auch, ertragen zu müssen, dass der/die andere seine/ihre individuelle Freiheit anders auslebt.

Über die Probleme und Herausforderungen der Einwanderungsgesellschaft muss geredet werden. Dabei ist aber auch DIE LINKE gefordert, zu hinterfragen, inwieweit eigene Prämissen gesellschaftlichen Zusammenlebens Artefakte einer deutlich homogeneren, protestantisch geprägten aber längst vergangenen Gesellschaftsformation sind. Zugleich sollte diese Debatte keinesfalls (auf der symbolischen Ebene) auf den Körpern von (migrantischen) Frauen ausgetragen werden, wie es im Moment passiert.

Auch die Debatte um das Verhältnis von Staat und religiösen Institutionen kann geführt werden. Hier sollte man sich jedoch überlegen, ob dies vielleicht etwas entspannter erfolgen könnte. Das Verhältnis von linker Bewegung und religiösen Institutionen hat sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ja auch deutlich entspannt.

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Quellen:

[1] BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 24. September 2003  2 BvR 1436/02 – Rn. (1-138).

[2] Gesetz zur Schaffung eines Gesetzes zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin und zur Änderung des Kindertagesbetreuungsgesetzes vom 27. Januar 2005 (GVBl. S. 92).

[3] vgl. Gutachten zu den Auswirkungen der „Kopftuch-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Januar 2015 auf die Rechtslage in Berlin, S. 5.

[4] BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. Januar 2015  – 1 BvR 471/10 – Rn. (1-31).

[5] BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. Januar 2015  – 1 BvR 471/10 – Rn. (89).

[6] aaO, Rn. 95.

[7] aaO, Rn. 96.

[8] ebd.

[9] aaO, Rn. 103.

[10] aaO, Rn. 113.

[11] aaO, Rn. 114.

[12] BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juni 2017  – 2 BvR 1333/17 – Rn. (41).

[13] aaO, Rn. 49.

[14] FN 3, S. 27.

[15] LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 9.2.2017 – 14 Sa 1038/16; NZA-RR 2017, 378 (382).

[16] ebd.

[17] aaO. S. 385.

[18] BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. Januar

 2015  – 1 BvR 471/10 – Rn. (89).

[19] aaO, Rn. 95.

20 aaO, Rn. 96.

21 ebd.

22 aaO,

Rn. 103.

23 aaO, Rn. 113.

24 aaO, Rn. 114.

25 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juni 2017  – 2 BvR 1333/17 – Rn. (41).

26 aaO, Rn. 49.